Alles schlecht da unten? Die Grenzen der Entwicklungshilfe

18 der 44 Länder, die ich bereits habe, sind als Entwicklungsländer klassifiziert. Aber was heißt das eigentlich, Entwicklungsland? Der Begriff ist umstritten, genau wie die Alternativen Globaler Süden oder Dritte Welt. Schon durch das Reisen in ein solches Land leistet man Entwicklungshilfe, ob man möchte oder nicht. Bei Entwicklungshilfe geht es nämlich um den Austausch: Geld, Spenden, Material, Personal - das aus dem Globalen Norden, beispielsweise Europa, in den Globalen Süden, beispielsweise Afrika, kommt. Das kann vor Ort aber ungeahnte Folgen haben - auch negative. Deshalb sollte sich jeder ein paar Gedanken zu dem Thema Entwicklungshilfe machen.


Begriffe: Entwicklungsland, Dritte Welt, Globaler Süden?

Wahrscheinlich sind die schon alle möglichen Begriffe begegnet, wenn es um wirtschaftlich ärmere Länder geht: Entwicklungsland, Dritte-Welt-Land, Land des Globalen Südens. Aber was ist denn nun richtig?

 

Der Begriff Dritte Welt kommt aus Zeiten des Kalten Krieges. Die Erste Welt war der Westen, die Zweite Welt der Osten. Sie standen sich gegenüber. Als Dritte Welt galten all jene Länder, die nicht direkt beteiligt waren - und das waren hauptsächlich jene Länder, die zuvor bereits als Entwicklungsländer klassifiziert waren. 

 

Der Begriff Globaler Süden ist der jüngste. Und er ist nicht weniger umstritten als die beiden anderen. Während einige Fachleute argumentieren, dass es die am wenigsten wertende Art ist, ein Land einzustufen, sagen andere, dass es geographisch keine korrekte Bezeichnung ist. So gehöre beispielsweise Australien und Neuseeland geografisch zum Globalen Süden, gehören aber zu den wirtschaftlich stärksten Länder. Eines der ärmsten Länder der Welt, Haiti, gehört hingegen geografisch gesehen zum Globalen Norden. 

 

Der Begriff Entwicklungsland ist der älteste dieser Begriffe. Er tauchte erstmals kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Die Kritik an dem Begriff erläutere ich gleich noch einmal etwas genauer. 


Was ist eigentlich Entwicklungshilfe?

Obwohl die Begriffe Entwicklungshilfe oder auch Entwicklungsland omnipräsent sind, gibt es keine einheitliche Definition. Es gibt verschiedene Ansätze, aber die Begriffe und die Definitionen haben sich in den vergangenen Jahren auch immer wieder geändert.

 

In den 60er Jahren, als der Begriff Entwicklungsland als solcher entstanden ist, stand vor allem der ökonomische Faktor im Fokus. Länder wurden nach Wirtschaftskraft beurteilt und jene, die wirtschaftlich schwächer waren als die meisten Staaten in Europa, sollten Wohltätigkeit und Geld aus den reicheren Staaten bekommen - als Spenden und als Animation, aufzuschließen. 

 

Später wurden weitere Faktoren einbezogen, da man die Entwicklung eines Landes nicht mehr nur an wirtschaftlichen Bedingungen messen wollte. So spielten beispielsweise auch die Lebenserwartung eine Rolle, die Schulbildung oder die Chancengleichheit von Frauen und Männern - soziale und kulturelle Faktoren wurden also einbezogen. Seit der Jahrtausendwende kam zuletzt der Nachhaltigkeitssektor als Gradmesser hinzu. 

 

Nach aktuellen Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sind rund 140 der 194 Länder weltweit Entwicklungsländer. Darunter sind auch etwa 40 Länder, die als sogenannte Schwellenländer bezeichnet werden. Dazu gehören etwa Brasilien und Südafrika, die zwar nach wie vor viel Armut und alle damit verbundenen Folgen vorweisen, aber sich wirtschaftlich dennoch abheben von den Ländern um sich herum. 

 

Entwicklungshilfe entstand aus dem Gedanken heraus, Entwicklungsländern bei der Entwicklung zu helfen. Nicht nur, dass das ein recht großes Unterfangen ist, es ist natürlich auch die Frage, was "Entwicklung" in dem Zusammenhang überhaupt bedeutet. 

 

Im Globalen Norden, also jenem Teil der Welt, der die Entwicklungshilfe erfunden hat, hält man sich selbst für per se entwickelt und Länder im Globalen Süden für generell unterentwickelt. Im Englischen gibt es den etwas passenderen Begriff "developing countries" - Entwicklung wird hier als Prozess dargestellt und Länder nicht so, als stünden sie bei Null. 

 

Unter Entwicklungshilfe fasst man all das zusammen, was an vermeintlicher Hilfe aus dem Globalen Norden in den Globalen Süden gebracht wird. Dazu gehören Material- und Geldspenden (privat wie staatlich), Investitionen, Bildungsprojekte, aber auch der Austausch von Fachkräften.  Wobei das in der Regel heißt: Der Globale Norden schickt ausgebildete Leute nach Afrika - nicht umgekehrt. 

 

Ein Schulkind, das in Deutschland Kuchen verkauft, um damit Geld für eine Partnerschule in Afrika oder Südostasien zu sammeln, leistet einen Anteil zur Entwicklungshilfe, genau wie ein ausgebildeter Informatiker, der vor Ort mit dem Geld von riesigen Konzernen Strom- und Internetverbindungen baut.  Und auch das allseits beliebte Volunteering ist Teil der Entwicklungshilfe (und ein ziemlich kritischer zudem).


Entwicklungshilfe und Kolonialismus - ein Zusammenhang

Wer die Problematik in und mit der Entwicklungshilfe verstehen will, muss einen Blick in die Geschichte werfen. Die Entwicklungshilfe ist nämlich aus der Kolonialbewegung heraus entstanden, nicht nur, aber auch in Deutschland. Die Entwicklungshilfe ist quasi das Nachfolgeprojekt des Kolonialismus, wenn auch mit vermeintlich sanfteren Methoden. Immerhin ist die Zeit des Kolonialismus von Zwang und Gewalt geprägt. 

 

Die Intentionen waren aber ähnlich, es drehte sich um die Kulturmission und das, was man heute als "White Savourism" kennt. Die Kulturmission, eine zentrale Säule des Kolonialismus, besagte, dass wir Europäer als Vorreiter der Industrialisierung, Bildung, des Arbeitswillen und der Religionszugehörigkeit, den Menschen in Afrika Zivilisation, Gehorsam und Arbeitswille beibringen müssen. Es wurde teilweise als gottgegebene Pflicht angesehen - eine Mammutaufgabe also. Wirtschaftliche Argumente, Landraub, Gewalt, Ressourcenplünderung - das alles war Teil eines perfiden Plans. Denn irgendwie musste man die Menschen vor Ort ja dazu bringen, sich der großen Aufklärung anzuschließen. 

 

Mit der Entwicklungshilfe wird auch heute noch gezeigt, dass wir Europäer Afrika und anderen Staaten, etwa in Lateinamerika oder Südostasien, wenig zutrauen. Wir trauen ihnen nicht zu, Probleme selbst zu lösen. 


Entwicklungshilfe hilft Armen - das ist doch gut?

Statt die Menschen in den Ländern als Handelspartner wahrzunehmen, nehmen wir sie als Bittsteller wahr. Anstatt zu animieren und Selbstständigkeit zu fördern, wird Abhängigkeit geschürt. Anstatt kulturelle Eigenheiten und kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen vor Ort zu sehen und zu fördern, wird das als unzivilisiert, wild und exotisch abgetan.

 

Entwicklung heißt eben für viele Entwicklungshelfer, dass die Menschen so werden sollen wie wir - so industrialisiert, technologisiert, gebildet, zivilisiert, kulturell gebildet. So modern. Dass Modernität damit nicht zwangsläufig zu tun hat und Bildung und Zivilisation auch auf ganz anderen Ebenen möglich ist und viel Potenzial bietet, das blenden wir aus. 

 

Auch heute unterliegt der Entwicklungshilfe, wie der Name schon sagt, diesem Helfer-Syndrom. Es ist für viele nur schwer zu ertragen, dass Menschen, insbesondere Kinder, noch immer hungern und verhungern. Das wäre doch sicher nicht so, wenn man da ein wenig modernisiert, aufklärt und zivilisiert, oder? Und es beruhigt eben auch ein wenig das eigene schlechte Gewissen, wenn man spendet. 

 

Doch wo kommt die Entwicklungshilfe überhaupt an?

 

Kommen wir zunächst zum finanziellen Aspekt: In vielen afrikanischen Staaten ist zum einen generell genug Geld vorhanden, damit keiner hungern müsste. Und zum anderen fließt so viel Geld an Entwicklungshilfe, dass es keine Armut mehr geben dürfte. Aber die Armut ist so omnipräsent wie eh und je. Es zeigt sich also - irgendwas stimmt nicht mit diesem System. Und auch beim materiellen und personellen Aspekt zeigt sich: Nach rund 60 Jahren Entwicklungshilfe hat sich in dem Bereich nichts wesentliches verändert. 

 

In der Tat erreichen einige und viele Projekte auch die Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. Aber jahrelang wurde weder eine Zusammenarbeit propagiert, noch wurden Projekte geschaffen, in denen die Menschen vor Ort irgendwann selbstständig aus der Armutsfalle herauskommen. Die Entwicklungshilfe war ein nie endender Kreislauf von Abhängigkeiten, das weder Geber noch Nehmer zufriedenstellt und ihnen genau das ermöglicht, was es soll: persönliche Entwicklung.  

 

Ich muss dabei immer an ein Zitat denken, das von Gottfried Benn stammen soll und im Laufe der Zeit auch von Bertolt Brecht oder der Band Kettcar verwendet wurde: 

 

"Das Gegenteil von gut ist gut gemeint."

 

Entwicklungshilfe ist vielleicht vielmehr genau das: Gut gemeint und weniger gut. 


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Probleme, die Entwicklungshilfe hervorbringt

Auch wenn die Intention, Menschen zu helfen, die weniger haben, erst einmal gut und richtig ist, heißt das noch lange nicht, dass es auch zielführend ist - also insofern, dass es den Menschen danach wirklich besser geht. 

 

Stattdessen aber schafft die Entwicklungshilfe nebst positiven Aspekten auch einige Probleme. Vor Ort ist das wichtigste Argument wahrscheinlich, dass die Entwicklungshilfe, wie sie derzeit konzipiert ist, nicht zur Selbstständigkeit beiträgt. Die Entwicklungshilfe schürt die Abhängigkeit des Globalen Südens vom Globalen Norden. Menschen bekommen Almosen, meistens müssen sie selbst nichts dafür tun, weil ihre Regierung bereits die Konditionen ausgehandelt hat.

 

Es entsteht dadurch aber auch ein fehlendes Gefühl für Wert, Besitz und Eigentum. Wenn man immer etwas bekommt, wenn etwas kaputt geht - was ist es dann wert? Muss ich dann auf meinen Besitz aufpassen?  Oder noch krasser gesagt: Oftmals werden Produkte verschenkt, aber keine Anleitung, wie damit umzugehen ist. Dass diese Produkte durch falsche Nutzung kaputt gehen, ist nur die logische Konsequenz - das betrifft übrigens Kartenspiele genau wie Traktoren.

 

Mit der Einfuhr von Artikeln aus dem Globalen Norden - oft aussortiert, weil sie hierzulande nicht mehr gut genug sind, "aber für Afrika reicht es", wird der heimische Markt zerstört. Billigware oder kostenlose Waren schwemmen den Markt und verdrängen minimal teurere lokale Angebote. Die Arbeitslosigkeit kann durch Spenden, vor allem durch Sachspenden, also über die Zeit steigen, weil ganze Wirtschaftsbereiche langsam bankrott gehen. 

 

Gleichzeitig sorgt Entwicklungshilfe dafür, dass kreatives Potenzial unter Einheimischen verborgen bleibt. Die Motivation, selbst zu investieren, mit Ideen oder Geld, ist nicht sehr hoch, weil zu viel von außen kommt. Neue Ideen werden oft unterdrückt, wenn sie nicht unserer Vorstellung von Modernität und Zivilisation entsprechen. Damit fehlt der Welt ganz viel - man möchte nicht wissen, wie viel Potenzial vor allem von jungen Menschen dadurch bereits verloren gegangen ist. 

 

Stattdessen passiert mit jungen Menschen aber oft anderes: Sie merken, dass sie in ihrem Land ihre Ziele nicht erreichen können. Diejenigen, die am besten ausgebildet sind, sind auf dem Weltmarkt, auf dem Fachkräfte fehlen, willkommen. Diejenigen also, die am besten ausgebildet sind, verlassen das Land und die Region - das Investment in ihre Zukunft dient also dem Globalen Norden, nicht dem Globalen Süden. 

 

In einigen afrikanischen Staaten wurden beispielsweise durch Entwicklungshilfsgelder Frauen ausgebildet, Taxi zu fahren. Sie sollten vor allem eine weibliche Zielgruppe ansprechen und für mehr Sicherheit sorgen. Doch kaum waren die Frauen ausgebildet, haben sie lukrativere Jobangebote aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und anderen Orten im Globalen Norden bekommen. 

 

Ein weiteres Problem, das wir nicht ausblenden können: Das Bild von Afrika, Lateinamerika und Südostasien als hilfsbedürftige Weltregionen wird geschürt. Menschen werden nicht mit Ideen, Visionen, Kreativität und Modernität abgebildet, sondern bleiben durch die ewigen Vorurteile behaftet.

 

Wer Entwicklungshilfe zahlt und wer zu Spenden animieren will, wirbt nicht mit der Start-Up-Szene in Lagos und Abuja in Nigeria, nicht mit der kreativen Szene aus Accra in Ghana oder Vorreiterprojekten wie bargeldlosem Zahlen in Kenia und Tansania. Der wirbt mit armen Menschen, die unter unwürdigen Bedingungen leben müssen. So festigt sich aber auch ein Bild in unseren Köpfen, das mit der Realität zwar ein wenig zu tun hat, aber eben nur ein Teil der Realität ist. 


"Die Menschen sind so arm und lächeln doch immer"

Und da wären wir auch beim Stigma Afrika. Wer den Begriff Entwicklungsland hört, denkt sofort an hungernde Kinder, am besten halbnackt und mit einem aufgeblähten Bauch. Man denkt an Menschen, die kein Trinkwasser haben und in der absoluten Einöde leben - in Hütten aus Lehm, ohne Hygiene, ohne Anschluss an irgendetwas, das für uns Modernität bedeutet. 

 

In vielen Afrika-Reise-Gruppen lese ich immer wieder Sätze wie "Die Menschen sind so arm und doch haben sie immer ein Lächeln übrig." Es sind Sätze, die brandgefährlich sind. 

 

Zum einen wird durch solche Aussagen Armut verniedlicht. Wenn Menschen lächeln, dann kann es ja nicht so schlimm sein. Oder? Wenn Menschen lächeln, dann haben sie etwas im Leben, was wir unzufriedene Europäer nicht haben. Wir romantisieren damit ein Leben, das auf vielen Ebenen viel herausfordernder und existenzieller ist als unser eigenes. Wir sehen negative Aspekte in Deutschland in Europa und tragen diese Unzufriedenheit in Länder im Globalen Süden - und reflektieren nicht, wir sehen nur das Lächeln. 

 

Aber lächeln die Menschen wirklich alle?

Nein!

 

Dieser Satz blendet nämlich viele Aspekte aus. Neben dem bereits genannten Verniedlichen von Armut ist der wichtigste Punkt wohl, dass es verschiedene Formen von Armut gibt. Es gibt Armut, die schwierig, aber nicht lebensbedrohlich ist. In Deutschland gelten schon Hartz-IV-Empfänger als arm. Das Leben ist für sie schwierig, sie können sich so manch eine Sache nicht leisten. Aber sie würden nicht verhungern.

 

Solche Menschen gibt es im übertragenen Sinne auch in Kenia. Es sind Lebenskünstler, die hier und da Arbeiten verrichten, ohne einen festen Job zu haben. Menschen, die vielleicht viele Kinder zu versorgen haben. Menschen, die sich keinen Strandurlaub leisten können, nicht im Restaurant essen gehen können, kein Uber oder Taxi bezahlen können, nicht ins Schwimmbad und nicht in die teuren Geschäfte der Shopping Malls gehen können. Hätten viele gerne mehr? Wahrscheinlich. 

 

Diese Menschen sind arm - sowohl im Vergleich zu armen Menschen in Deutschland als auch im Vergleich zum Kenianer, der das Durchschnittsgehalt verdient. Aber sie kommen über die Runden, wenn keine Naturkatastrophen oder ähnliches stattfinden. 


Der Kreislauf der existenziellen Armut

Aber es gibt auch die andere Armut. Und damit meine ich jene, die abends ins Bett gehen und nicht wissen, ob es am nächsten Tag für die Familie etwas zu essen gibt. Menschen, die ihre Kinder kilometerweit zur Schule zu Fuß gehen lassen, weil sie die 20 Cent für den Schulbus nicht zahlen können. Die sich entscheiden müssen, ob sie Essen kaufen oder sauberes Wasser. Diesen Menschen eine solche Zufriedenheit zu unterstellen und gegen die eigene Unzufriedenheit durch einen nicht optimal laufenden Job oder ähnliches aufzuwiegen, ist fatal und leugnet real existierende Armut. 

 

Auch wenn das Herabwürdigen existenzieller Armut für mich der ausschlaggebende Grund ist, diesen Satz nie zu verwenden - mal abgesehen davon, dass er auch nicht der Wahrheit entspricht. Es gibt noch weitere Aspekte, die wir bedenken sollten. Nämlich die Frage: Warum lächelt jemand? 

 

Ein Lachen kann viele Gründe haben. Es kann ein Zeichen von Stolz oder Gastfreundschaft sein, ein Zeichen dafür, dass gerade etwas lustiges passiert. Es kann aber auch schlicht eine Methode sein, um das eigene Elend zu vergessen. Wer permanent daran denkt, dass er nicht weiß, was er morgen essen kann, ob er die Kinder zur Schule schicken kann, ob er die 20 Euro Miete für die Wellblechhütte zahlen kann - der wird verrückt. Also werden diese Themen verdrängt. Die Psyche kann absurde Dinge. Aber nur durch diese Art Verdrängung ist ein Überleben überhaupt möglich. Ein Überleben, ohne von Sorgen, Angst und Schmerzen aufgefressen zu werden.  


Soll ich jetzt nicht mehr spenden?

Ich würde niemandem sagen, was und wie er zu spenden hat. Es ist das eigene Geld und jeder muss selbst damit umgehen. Aber ich kann aufzeigen, was passieren kann. 

 

Es gibt zahlreiche Organisationen, die nicht nachhaltig in Entwicklung investieren. Die viel zu viel Geld für die eigene Bürokratie verbraten und die vor Ort in Strukturen investieren, die nicht auf Selbstständigkeit und Nachhaltigkeit ausgelegt sind.

 

Die Kleidungsindustrie ist da so ein Beispiel. Der Altkleidermarkt hat die Textilindustrie zahlreicher Länder komplett zerstört. Anstatt Näherinnen ein bisschen Geld zu zahlen, wurden billigste Billigwaren, kostenlos ins Land gebracht. Einige wenige konnten daran verdienen, doch diejenigen, die in der Textilbranche gearbeitet haben, gingen pleite. Ruanda hat deshalb die Einfuhr von Altkleidern verboten. 

 

Auch Materialspenden im Urlaub sind solch ein Problem. Wir bringen Süßigkeiten und Spielzeug mit und erfreuen uns an strahlenden Kinderaugen. Klar, welches Kind mag das nicht? Wir denken aber nicht zwei Schritte weiter. Wir denken nicht daran, dass Süßigkeiten die Gesundheit dieses Kindes komplett ruinieren können, weil es weder eine ausgewogene Ernährung hat, noch die Möglichkeit zur Zahnpflege. Wir denken nicht daran, dass das Billigspielzeug nicht für das Spielen im Staub unter der Sonne gemacht ist und schnell kaputt geht - und Plastikmüll in einem Land ohne funktionierende Müllentsorgung produziert. In Kampala in Uganda ist es inzwischen verboten, Kindern einfach so etwas zu schenken - vermeintliche weiße Wohltäter können im Gefängnis landen, wenn sie wahllos Süßkram und Geschenke verteilen. 

 

Aber es gibt sinnvolle Projekte. Projekte, in denen Einheimische einbezogen und ausgebildet werden. Es ist schwierig, gerade aus Deutschland, wenn man keinen direkten Einblick hat, herauszufinden, welche Organisationen sinnvoll sind. Wichtige Gradmesser sind für mich dabei:

 

Sind Einheimische involviert? 

Haben sie eine Stimme?

Werden sie gehört?

Ist das Projekt so konzipiert, dass es selbstständig und ohne Hilfe von außen fortgeführt werden kann?

 

In solch einem Fall sind Spenden wichtig und richtig. Patenschaften sind beispielsweise auch nachhaltige Investitionen. Wenn Kindern eine gute Schulbildung zuteil wird, haben sie höhere Chancen, später einen guten Beruf zu ergreifen, nicht früh schwanger zu werden und generell ist die Chance einfach deutlich besser, dass sie kein Leben in Armut werden führen müssen.


Nachhaltige Entwicklungshilfe - ist das überhaupt möglich?

Wenn du bis hierhin gelesen hast, stellst du dir vielleicht die Frage, warum es immer noch Entwicklungshilfe gibt. Nun, in erster Linie hilft sie dem Globalen Norden. Wir tun etwas für unser gutes Gewissen, können uns als Wohltäter aufspielen und - auch das spielt eine Rolle - für viele Menschen bedeutet das wirklich etwas und sie wollen die Welt zu einem besseren Ort machen. 

 

Doch der Globale Norden gibt beispielsweise weniger Entwicklungshilfe an Subsahara-Afrika als er an Krediten und Ratenzahlungen von Subsahara-Afrika verlangt, schreibt die kenianische Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai in ihrem Buch "Challenge for Africa". Das ungleiche Wirtschaftssystem bleibt, der schlechtere Zugang zu internationalen Märkten, das Preis-Dumping, der günstige Ausverkauf von natürlichen Ressourcen, die teurer als fertiges Produkt wieder importiert werden. Der Globale Süden hat auf dem Weltmarkt kaum eine Stimme. 

 

Und dann wäre da noch ein zweiter Aspekt: Mit Entwicklungshilfe schafft vor allem Europa sich auch Staaten zu seinen Bedingungen. Denn Entwicklungshilfe gibt es nicht umsonst, sie ist in der Regel an Bedingungen geknüpft. Bestimmte Wirtschaftsbeziehungen, Gesetzgebungen, die Einhaltung von Menschenrechten - all diese Forderungen sind gekoppelt an Zahlungen. Europa diktiert die Richtlinien, nach denen Staaten aus der Not geholfen wird, die teilweise selbst verschuldet, teilweise aber auch durch Europa verschuldet wurde.

 

Dass Entwicklungshilfe nun gern Entwicklungszusammenarbeit genannt wird, ist ein erster Schritt. Aber eigentlich auch nur ein Schritt voran in einem zum Scheitern verurteilten Projekt. Indem man den Begriff ändert, begegnet man sich nicht automatisch auf Augenhöhe. So wird durch den Begriff zwar impliziert, dass es eine Zusammenarbeit mit Staaten im Globalen Süden gibt, aber das Machtgefälle bleibt dennoch bestehen.

 

Wäre Entwicklungshilfe aufrichtig, müsste sie das Ziel haben, sich abzuschaffen. Erfolgreiche Entwicklungshilfe zerstört den eigenen Job, macht ihn schlicht überflüssig, weil die Menschen im Zielland sich selbst versorgen können. Davon sind wir aber in etwa so weit weg wie zu Beginn der Entwicklungshilfe.  

 

Ich habe keine Lösung für das Problem. Ein erster Schritt war sicher Chinas Eindringen auf den afrikanischen Märkten. Das wird vielerorts sehr kritisch gesehen, vor allem in Europa. Auch in Afrika selbst werden Stimmen laut gegen die erneute Plünderung des Kontinents. Aber Wangari Maathai hat in ihrem Buch ganz gut erklärt: Afrika hatte nie eine Stimme beim Weltwirtschaftsgipfel. Europa und Amerika haben nie im Sinne Afrikas entschieden oder gehandelt. Durch China hatte der afrikanische Kontinent zum ersten Mal Zugang. Zudem gab es keine Bedingungen, die an Investitionen und Projekte geknüpft waren. Viele Staaten hatten den Eindruck, frei entscheiden zu können. 

 

Wie gesagt, ich habe keine Lösung. Ich denke, dass viel Wandel auch aus Afrika heraus kommen muss. Aber vielleicht müssen wir einfach auch aushalten und ertragen, dass Staaten sich für eine andere Modernität entscheiden. Dass sie souverän reagieren. Und wir im Globalen Norden ihnen trotzdem auf dem Weltmarkt gleiche Chancen einräumen, faire Kredite auferlegen, faire Preise für Ressourcen und Personal zahlen und sie schlicht gleichberechtigt ansehen. Erst dann kann es eine wirkliche Zusammenarbeit geben - die zur besseren Entwicklung aller Länder führen kann, im Globalen Süden wie im Globalen Norden.  


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Kommentare: 12
  • #1

    Auszeitgeniesser (Montag, 19 April 2021 11:30)

    Liebe Miriam,
    das ist ja sehr interessant, dass es keine allgemeingültige Definition der Begriffe Entwicklungsland oder Entwicklungshilfe gibt.

    Ich denke besonders in Afrika ist viel in früheren Zeiten passiert, was noch heute Auswirkung hat. Auch das Eindringen Chinas in den afrikanischen Markt macht es nicht besser. Ich denke hier besonders an Ausbeutung von Bodenschätzen und Menschen.

    Anleitung zur Selbsthilfe ist immer wieder das herumgeisternde Zauberwort, doch funktioniert es? Ich kenne die Lösung auch nicht, doch viele Projekte machen mich skeptisch.

    Liebe Grüße, Katja vom WellSpa-Portal

  • #2

    Dario (Montag, 19 April 2021 12:06)

    Sehr spannender und wichtiger Artikel, Miriam! Ich würde bei den Kriterien noch weiter gehen und nicht nur "Sind Einheimische involviert" anschauen, sondern sind die Einheimischen in den Führungspositionen und das Gesicht der Organisation. Ich denke, jeder weiss am besten selber was er braucht, so lange Menschen aus dem globalen Norden diese Organisationen leiten, wird es wenig Veränderungen geben.

  • #3

    stephan (Montag, 19 April 2021 14:33)

    Hi Miriam, wieder einmal ein sehr interessanter Beitrag von dir.
    Ich hatte vor vier Jahren das Glück einmal an einem Vortrag teilhaben zu können in dem ein Afrikaner über genau dieses Thema geredet hatte.
    Auch er war der Meinung dass die Länder es alleine schaffen müssen und eine sehr spannende Idee hatte wie es möglich wäre die Wirtschaft in seinem Land, ich glaube dass es sich um Burkina Faso gehandelt hatte deutlich zu verbessern.
    Was daraus geworden ist weiß ich leider nicht, doch dein Beitrag hat mich wieder einmal daran erinnert. Danke dafür.
    Woher der Begriff 3. Welt stammt wusste ich auch noch nicht und hatte ich anders im Gedächtnis.
    LG
    Stephan

  • #4

    Katharina (Montag, 19 April 2021 15:26)

    Super spannender Einblick, vielen Dank dafür. Ich nehme Entwicklungshilfe auch immer als schwierig wahr - irgendwo muss man anfangen, aber man sollte es eben auch richtig machen und das ist gar nicht so einfach. Was mir bisher am besten gefällt ist, das eigene Vergeben von zinslosen Mikrokrediten via Kiva.org (mache ich seit 2007). Bisher habe ich immer meine Kredite zurück erhalten und konnte diese viele Male reinvestieren. Das ist nicht nur schön, weil man das Geld immer wieder neu verleihen kann sondern auch, weil ich durch das zurückgezahlte GEld sehe dass die Kreditnehmer wirklich toll gewirtschaftet haben und sich offensichtlich mit dem Geld etwas nachhaltiges aufbauen konnten, was über 1-2 Jahre den Kredit zurückgezahlt hat.

  • #5

    Vivienne Claus (Montag, 19 April 2021 17:06)

    Liebe Miriam,
    ein ausführlicher und gut recherchierter Artikel. Ich konnte noch viel dazulernen, da Du das Thema "Entwicklungshilfe" von vielen Gesichtspunkten aus beleuchtet hast.
    Ich finde, dass die unentdeckten Potenziale der Einwohner auch ein wichtiger Aspekt ist, der oft untergeht und vernachlässigt wird. So hatte ich einmal eine Doku gesehen, wo die Menschen alte technische Geräte, die wir weggeworfen hätten, wieder repariert haben und untereinander verschenkt haben und war beeindruckt.
    Und trotzdem sollte Armut besonders von Reiseveranstaltern nicht verherrlicht werden.
    Gut, dass Du die Begriffe wie "Dritte Welt" noch einmal so gut erklärt hast.
    Herzliche Grüße und alles Liebe
    Vivienne

  • #6

    Julia (Montag, 19 April 2021 20:42)

    Hallo Miriam,

    es ist kein einfaches Thema und im Grunde gibt es auch keine allgemeine Antwort. Aber als erstes muss das eigene Land was tun, und dann kann der 2. Schritt erfolgen das man zusammen aufbaut wie die Hilfe sein kann. Damit meine ich nicht einfach Spenden oder das man hier was Sammelt und es dann nach Afrika Gefahren wird. Haushalt, Autos usw. waren das. Aber ich finde deinen Artikel sehr gut geschrieben. Hilfreich.

    Liebe Grüße
    Julia

  • #7

    Tanja's Everyday Blog (Montag, 19 April 2021 21:38)

    Hallo Miriam,
    das ist wieder ein Beitrag, der zum Nachdenken anregt. Wir haben das Thema während des Studiums in Internationaler Wirtschaftspolitik durchgearbeitet. Mir ist ein Satz vom Professor hängen geblieben: Hilfe zur Selbsthilfe. Er meinte auch, man muss den Menschen beibringen wie sie sich selbst helfen könne und nicht alles abnehmen. Dann lernen sie nichts und wissen sich trotzdem nicht zu helfen. Aber mit richtigen Ressourcen und Wissen kann dieses Land sehr wohl aufsteigen!
    Liebe Grüße, Tanja

  • #8

    Jana (Dienstag, 20 April 2021 15:37)

    So wie du gerade hat mir noch nie jemand das Thema Entwicklungshilfe vermittelt! Man denkt immer, man tut was Gutes, wenn man Kleider spendet, Spielzeug aussortiert und Geld überweist. Aber scheinbar kommt das nicht so wirklich dort an, wo es gebraucht wird oder schadet am Ende der Wirtschaft des jeweiligen Landes. Auf jeden Fall müssen die Menschen, für die die Hilfe gedacht ist, mehr Mitspracherecht haben und ich finde gut, dass in einigen Ländern mittlerweile Verbote herrschen!

    Liebe Grüße
    Jana

  • #9

    Sabrina Bechtold (Sonntag, 25 April 2021 14:43)

    Danke, Miriam, für diesen richtig gut recherchierten und lehrreichen Beitrag. Du hast es mal wieder geschafft, mich sehr zum Nachdenken anzuregen. Auch ich war schon mal in "Entwicklungsländern" und habe dort Plüschtiere an die Kinder verteilt. Schon damals hinterliess das einen sehr eigenartigen Nachgeschmack bei mir. Auf der einen Seite fühlte ich mich gut und "heldenhaft" wegen der leuchtenden Kinderaugen, auf der anderen Seite stellte ich schon damals mein eigenes Verhalten und die Konsequenzen in Frage.
    Durch Deinen Beitrag ist mir noch klarer geworden, dass das Gegenteil von gut oft "gut gemeint" ist, im übrigen eine Textzeile, die auch ich immer lautstark im Song von Kettcar mitgesungen habe....

  • #10

    Julia (Montag, 03 Mai 2021 21:43)

    Liebe Miriam,
    wieder einmal ein sehr interessanter, lehrreicher Beitrag von dir. Dankeschön dafür! Das ist ein Thema, über das ich mir auch immer wieder viele Gedanken mache. Sowohl auf Reisen als auch zu Hause, wenn es darum geht, ob man etwas spendet. Inzwischen unterstütze ich ein Patenkind, vielleicht tatsächlich eine nachhaltige Art, zu helfen.
    Viele Grüße, Julia

  • #11

    Katrin Haberstock (Mittwoch, 05 Mai 2021 10:16)

    Hallo Miriam,
    Beim Lesen deines Artikels hab ich richtig Gänsehaut gehabt. Du hast es gut aufgezeigt wie es dort abläuft. Schon sehr bewegend.
    Danke das du darüber informierst.

    Liebe Grüße
    Katrin Haberstock

  • #12

    Lisa von Travellerin (Montag, 17 Mai 2021 20:55)

    Liebe Miriam,

    wow, was für ein toller Artikel. Ich habe wirklich jedes Wort verschlungen. Früher dachte ich auch immer: "Mal für einen Freiwilligendienst nach Afrika. Das ist ja was Gutes". Dann habe ich mal eine WDR-Doku dazu gesehen, die mir die Augen geöffnet hat und nun auch Dein Artikel, der mir noch einmal richtig viel erklärt hat. Den Satz "Wäre Entwicklungshilfe aufrichtig, müsste sie das Ziel haben, sich abzuschaffen." finde ich ziemlich stark und zeigt noch einmal diesen Teufelskreislauf, der damit stattfindet. Danke Dir!

    Liebe Grüße
    Lisa